Riesenerfolg: 265.000 Unterschriften für eine ökologische, demokratische und soziale Energieversorgung in Berlin!
Die Berlinerinnen und Berliner werden dieses Jahr wohl für zwei Entscheidungen an die Wahlurnen gerufen: Gestern endete die zweite Stufe des Berliner Energietischs, in der mindestens 200.000 Unterschriften für eine ökologische, demokratische und soziale Energieversorgung in Berlin gesammelt werden sollten. Heute Mittag dann der große Jubel, denn diese Zahl wurde bei weitem überschritten: Mehr als 265.000 Menschen haben zwischen Februar und Juni ihre Stimme abgegeben – das Quorum von 172.000 gültigen Stimmen ist damit wohl auf alle Fälle überschritten.
Nun wird ein Volksentscheid im Herbst eingeleitet, bei dem alle Berlinerinnen und Berliner aufgerufen sind, über den vorgelegten Gesetzesentwurf abzustimmen und damit den Senat in der Energiepolitik weiter unter Druck zu setzen: Wenn die Abstimmung gelingt, soll Berlin alles daran setzen, bei der Bewerbung um den Strom-Konzessionsvertrag mit dem eigenen Bewerber zu gewinnen. Gleichzeitig würde dann ein Stadtwerk als Energieversorger gegründet, das 100% erneuerbare Energien anbietet.
Dieser gewaltige Erfolg macht deutlich: Die Berlinerinnen und Berliner wollen einen echten Neustart in der Berliner Energieversorgung. Steigende Strompreise, ein desaströses Abschneiden bei der bisherigen Nutzung erneuerbarer Energien in der Hauptstadt und das Gefühl, einem privaten Konzern ohne demokratische Kontrolle ausgeliefert zu sein, hatten sicherlich einen starken Einfluss auf die große Beteiligung am Volksbegehren. Die Beteiligung ist also ein gutes Zeichen für eine zukunftsfähige Energieversorgung, denn die wird jetzt endlich möglich sein in unserer Stadt.
Die große Beteiligung am Volksbegehren ist aber auch ein gutes Zeichen für die Demokratie. Sie lebt offenbar auch abseits der Bereiche, in denen es leichter ist, Positionen zu finden und zu vertreten. Viele und vor allem junge Menschen haben wochenlang ihre Botschaft und Überzeugung auf die Straße gebracht und diesen Erfolg ermöglicht, auch wir von „Kohle nur noch zum Grillen“ haben monatelang mitgesammelt. Vor allem die niedrige Schwelle zur Partizipation war wohl ein Garant, denn selten war es einfacher mitzumischen: Den Sammelbogen konnte sich jede und jeder im Internet herunterladen und somit auf eigene Faust Unterschriften sammeln. Auch an den Universitäten sah man in nahezu jedem Seminar junge Vertreterinnen und Vertreter des Bündnisses.
Dennoch: Nicht wenige hatten befürchtet, dass sich der Energietisch schwer tun würde mit der Unterschriftensammlung. Zwar hatte der Wassertisch vor wenigen Jahren ein ähnliches Anliegen – öffentliche Interessen in der Grundversorgung stärken – doch ist die Sachlage beim Energietisch wesentlich komplexer. Hier geht es nicht um die Offenlegung von Privatisierungsverträgen, sondern darum, eben solche Privatisierungen auf verschiedenen Ebenen zurück zu drehen. Da geht es um Verteilnetze, Kraftwerksparks und Konzessionsverfahren, um Aufsichtsräte, Sachzeitwerte, Grundversorger und Entflechtung. Dass die Debatte um die Energieversorgung dennoch medial und gesellschaftlich so intensiv geführt wurde, und dass so viele Unterschriften zusammen gekommen sind, ist ein noch erfreulicheres Zeichen – ein Zeichen dafür, dass demokratische Willensbildung, Teilhabe und Mitwirkung auch da funktionieren, wo die politischen Inhalte komplexer, technischer und kleinteiliger werden.
Klar ist nämlich auch: Beim Anliegen des Energietischs handelt es sich – wie auch bei den Forderungen des Wassertischs – um Kernbereiche der Daseinsvorsorge, die bei Privatisierungsvorhaben oft gefährdet werden. Mit dem Begriff der Daseinsvorsorge wird die Gesamtheit der Leistungen bezeichnet, derer sich die öffentliche Hand annehmen soll, um eine „normale“ Lebensführung zu ermöglichen. Energie- und Wasserversorgung zählen dazu, ebenfalls der ÖPNV, Bildung, Kultur und zahlreiche weitere Bereiche. Die Debatte über diesen „Leistungskatalog“ ist keinesfalls abgeschlossen und letztlich eine höchst normativ aufgeladene Diskussion, aber insbesondere bei der Energieversorgung führen Befürworter zudem ökonomische, demokratische, ökologische und soziale Aspekte ins Feld: Nicht nur können Stadtwerke als öffentliche Akteure der Daseinsvorsorge wesentlich stärker demokratisch kontrolliert werden und damit auf die besonderen lokalen Bedürfnisse ausgerichtet werden. Soziale Tarife können einfacher verankert werden, denn Daseinsvorsorge soll zuerst dem öffentlichen Interesse dienen – und erst zweitrangig dem Ertrag. Auch gehen starke wirtschaftliche Impulse mit der Gründung lokaler Akteure einher: Gewinne bleiben in der Region, die regionale Beschäftigung und Wertschöpfung kann gesteigert werden. Nicht zuletzt wird die Energiewende als dezentrale Wende verstanden, mit Windrädern und Solaranlagen überall in Deutschland, was die Argumentation der Stadtwerke stärkt – und eine „Energiewende von unten“ weiter voran treibt.
Daseinsvorsorge sei eine deutsche Besonderheit, heißt es in der wissenschaftlichen Literatur, auch wenn Liberalisierungsdynamiken vor allem auf europäischer Ebene in den vergangenen Jahrzehnten stark an dieser Sonderstellung gerüttelt haben. Es ist gut zu sehen, dass das Konzept der Daseinsvorsorge offenbar auch weiterhin ein hohes Ansehen genießt, zumindest bei der konkreten Frage nach der Energie-Rekommunalisierung in Berlin: Bei einer Forsa-Umfrage für die Berliner Zeitung sagen 62 Prozent der befragten Berlinerinnen und Berliner über 18 Jahren, dass sie die Forderungen des Energietischs unterstützen – die Sammlerinnen und Sammler hätte mit entsprechenden Kapazitäten also auch ein Vielfaches der Unterschriften einholen können, nämlich 1,5 Millionen. Interessant ist auch, dass Anhänger aller Parteien, die im Abgeordnetenhaus vertreten sind, die Forderungen unterstützen. Nicht verwunderlich ist, dass dies vor allem auf die Linkspartei zutrifft. Aber auch Anhänger der CDU unterstützen mehrheitlich die Rekommunalisierung.
Nun muss der Senat anerkennen, dass die Bevölkerung eine echte Energiewende für die Hauptstadt möchte. Sie muss den Abstimmungstermin deshalb auf den 22. September legen, denn die Bundestagswahl ist eine gute Gelegenheit, um auch über dieses wichtige Thema abzustimmen.
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